Kontrolle der Communities

„Kontrolle der Geflüchteten durch ihre Communities“

  1. Juni, 2018, in der Bonveno-Flüchtlingsunterkunft des ehem. IWF, Nonnenstieg 72

Viele Geflüchtete erleben nach 3 Jahren Deutschland einen erneuten Kampf um die Freiheit. Als sie ankamen und Schutz gefunden haben, genossen viele die Ungebundenheit und Anonymität von der Großfamilie und der heimatlichen Gemeinschaft, die für viele Geborgenheit aber auch Überwachung darstellt. Jetzt entwickeln sich auch wieder hier die Netze und Überwachungsmechanismen Ihrer Herkunftsstruktur. Dabei sprechen wir von „Communities“. Gerade Frauen leiden dann unter Diskriminierung. Menschen, die die Traditionen und Sitten der Herkunftsländer nicht einhalten, erfahren oft Mobbing und Ausschluss aus der Gemeinschaft.

Ehrenamtliche, Geflüchtete, BrückenbauerInnen (Menschen, die seit langem in Deutschland leben und so in zwei Kulturen zu Hause sind) und hauptamtliche FlüchtlingshelferInnen sind gekommen, um Fragen zu erörtern: Wie können sich Flüchtlinge vor Mobbing schützen? Wie können wir Menschen stärken, nach ihren eigenen Gesetzen zu leben und sich nicht durch ihre Community unterdrücken zu lassen? Wie entwickelt sich Toleranz gegenüber anderen Lebensformen?

Die Ehrenamtlichen, haben seit knapp 3 Jahren engen Kontakt zu Familien, Kindern, Jugendlichen und alleinstehenden Frauen. Die Geflüchteten kommen aus dem Sudan, dem Irak, aus Syrien, aus Pakistan. Als GesprächspartnerInnen kamen: Nagham Aljaber, Ökonomin aus Damaskus; Nauzat Khalil, Sozialarbeiterin aus Syrien, Wasey Khalil, promoviert zum Thema Migration der Pakistanis und Afghanen, Dr. Ing. Shahd Seethaler-Wari, Architektin und Stadtplanerin, Thema Räumliche Bedürfnisse und Unterbringung von Geflüchteten, Berlin-Palästina; Manar Elmasmari, Islamwissenschaftlerin Schwerpunkt Genderforschung; Dana Noori, Flüchtlingsbetreuer; Firas Alderi, Flüchtlingsbetreuer

In der Gesprächsrunde berichteten zunächst Geflüchtete und BrückenbauerInnen von ihren Erfahrungen von Diskriminierung auf Grund ihres modernen Lebensstils – aus Frauen- wie aus Männerperspektive.

Wie können wir Männer und Frauen schützen, die in Göttingen in Freiheit leben wollen? Was ist das Rezept für individuelle Freiheit? Nauzat Khalil aus Syrien: „Die Menschen können nur immun vor Diskriminierung sein, wenn sie unabhängig sind. Selbstbewusstsein durch Selbstvertrauen, Unabhängigkeit durch Bildung und finanzielle Selbstständigkeit. Junge Menschen können so frei und selbstbestimmt werden.“

Das Verhältnis von Individualität und Kollektiv war das große Gesprächsthema. Dr. Shahd Wari aus Jerusalem/ Palästina: „Das Kollektiv will beschützen nicht beherrschen. Das paternalistische System des Orients gibt vor, was den Menschen hilft und was schadet. Wenn jetzt die Deutschen den Flüchtlingen erklären, was gut für sie ist, ist das ebenso paternalistisch.“

Ganz deutlich wurde im Gespräch die Spannung zwischen dem Drang nach Bindung und dem Drang nach Selbstständigkeit, die Spannung zwischen Identität und Integration.

Firas Alderi, Flüchtlingsbetreuer, der auch Situationen der Ausgrenzung von der arabischen Community kennt, sagt: Ich habe in erster Linie eine Firas-Identität und erst in zweiter Linie eine arabische Identität. Die individuelle Identität ist wichtiger, um hier glücklich zu sein und sich hier integrieren zu können.

Warum ärgert arabische Männer das, was sie bei deutschen Frauen tolerieren: Berufsausübung, Emanzipation, kurze Kleider, offene Haare, Tanz und Weingenuss? Warum tradieren gerade Frauen aus dem Orient die Beschränkung der Frauenrechte? Manar Elmasmari: „Viele Regeln für Frauen wie Kopftuch, Beschneidung, Trennung von Mädchen und Jungen, Frauen und Männern kommen aus der patriarchalen Struktur der Herkunftsländer und sind nicht theologisch begründbar. Doch die meisten nehmen es als unveränderlich und wissen es auch nicht besser. Manar nachfragen

Dana Noori, Flüchtlingsbetreuer, gab zu Bedenken, dass die Menschen Angst haben, sie verlören alles, ihre gesamte Kultur, wenn sie sich von alten Strukturen, Regeln, Gesetzen verabschieden. Sie sähen keine individuelle Bereicherung an Freiheit, sondern den Verrat ihrer Kultur.

Die Ehrenamtlichen, berichteten von ihren Versuchen, Mädchen und Frauen zu motivieren, am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen, wie Auszugehen und bei Ausflügen mitzumachen, und von der Flut von ärztlichen Chlorallergieattesten, um vom Schwimmunterricht befreit zu werden.

Erst gegen Ende mischten sich die Geflüchteten selbst in die Diskussion ein. Zana aus Syrien,  Philosophiestudent: „Es gibt bei uns keine freie Entscheidung. Jede Entscheidung ist vorgegeben.“

Ist Toleranz gegenüber anderen Lebensformen erlernbar? Dana Noori bittet um mehr Geduld der Deutschen, ist aber zuversichtlich!

Da sehr, sehr viele Geflüchtete zunehmend die Bevormundung und Autorität überbrachter Strukturen kritisch wahrnehmen, wird eine Entwicklung von innen heraus stattfinden. Wenn die Kritik von außen kommt, bewirkt sie eher das Gegenteil. Nach dem Motto: „Wehe Du kritisierst meinen Vater, dass darf ich nur selber.“

Annabel Konermann, Bonveno-Ehrenamtskoordinatorin