Zwischen sozialen Brennpunkten mit privater Vermietung wie der Groner Landstraße 9 oder Hagenweg 20 und den öffentlich betriebenen Unterkünften für Geflüchtete in Göttingen liegen Welten. Deutlich wird das beim Besuch der Unterkunft an der Europaallee, die als Vorzeigeeinrichtung gilt.
Eine ebenso geräumige wie gepflegte Freifläche mit Grill-, Aufenthalts- und Spielmöglichkeiten, gesäumt von farblich gegliederten Wohngebäuden, separate Appartementeingänge über eine Außengalerie, wie man sie von Motels kennt, die Atmosphäre wirkt familiär und vertraulich. Der Wohnkomplex am Holtenser Berg hinterlässt einen rundum positiven Eindruck. Von den 300 Plätzen sind zurzeit nach Angaben von Einrichtungsleiterin Leonie Engelbert nur 170 belegt, knapp die Hälfte der Bewohner sind Kinder und Jugendliche. Eine Situation, die auch für Entzerrung in Corona-Zeiten sorgt.
Bewohner zeigen sich zufrieden
Ebenso wie die Unterkunft an der Hannah-Vogt-Straße, die eine Kapazität von 180 Plätzen hat, ist die Wohnanlage an der Europaallee ein Neubau in Modulbauweise. Beide Einrichtungen seien 2016 durchgestartet, berichtet Michael Bonder, Geschäftsführer des Göttinger Kreisverbandes der Arbeiterwohlfahrt (Aw0) und der nach dem Esperanto-Wort für „Willkommen“ benannten Bonveno GmbH. Zu dieser gemeinsamen und gemeinnützigen Gesellschaft haben sich die fünf Göttinger Wohlfahrtsverbände Awo, Diakonie, Deutsches Rotes Kreuz, Paritätischer Wohlfahrtsverband und Caritas nach der Flüchtlingswelle 2015 zusammengeschlossen und für die von der Stadt Göttingen errichteten Neubauten Betreuungsverträge abgeschlossen.
Lankeit (v.l.), Bonder und Engelbert vom Bonveno-Team.
Zwischenzeitlich sei Bonveno auch für die Unterkünfte am Nonnenstieg und in der ehemaligen Vogt-Schule zuständig gewesen, die 2018 aufgelöst wurden, teilt Bonder mit. Für die Hannah-Vogt-Straße sei der Betreuungsvertrag bis August 2022 verlängert worden, sicher ebenfalls verlängert werde die bis August 2021 bestehende Vereinbarung für die Europaallee. Die umstrittene Unterkunft Siekhöhe in einer ehemaligen Lagerhalle hat die Stadt im Sommer vergangenen Jahres geschlossen, die Schützenanger-Pläne werden nicht weiterverfolgt.
Siekhöhe und Schützenplatz miterlebt hat Aissatou D. aus Guinea. Seit zwei Jahren teilt sie sich mit Sohn Ibrahim und ihrer Freundin Oumou Zenab T. eine Wohnung in der Europallee-Unterkunft und fühlt sich dort wohl: „Hier ist es viel besser.“ Auch eine 55-Jährige aus Ruanda, die mit ihrem Ehemann und zwei Kindern ein Appartement bewohnt, zurzeit juristisch ums Bleiberecht kämpft und ihren Namen nicht nennen möchte, ist zufrieden. „Es ist gut hier, wir haben unsere Ruhe“, übersetzt Engelbert, die unter anderem fließend französisch spricht. „Alles bestens hier“, meint auch Zeina (13) aus Tschetschenien, die perfekt Deutsch spricht. Mit ihrer sechsköpfigen Familie lebt sie seit sechs Jahren in Deutschland, seit fast vier Jahren im Europaallee-Quartier. Damit gehören sie und ihre Familie zu den ersten Bewohnern, die dort eingezogen sind.
Auszüge statt Zuweisungen
Samira (5) aus Tschetschenien lebt mit ihrer Familie seit vier Jahren in der Unterkunft an der Europaallee.
Zurzeit gebe es eine relativ hohe Fluktuation, seit Wochen so gut wie keine Zuweisungen mehr und hauptsächlich Auszüge, sagt Engelbert. Nach den Corona-Ausbrüchen im Iduna-Zentrum und der Groner Landstraße seien die Aufnahmebehörden sehr vorsichtig geworden. Und trotz der Corona-Pandemie würden immer wieder Vermittlungen in städtische Wohnungen und Privatwohnungen gelingen. „Die Situation hat sich deutlich entspannt“, ergänzt Bonder. Seit März gebe es stark rückläufige Belegungszahlen, in den beiden von Bonveno betreuten Einrichtungen zurzeit nur 50 bis 70 Prozent Belegung.
„Von einem Umzug in die Groner Landstraße oder den Hagenweg raten wir dringend ab“, sagt Bonder. Verhindern könne man das aber nicht. Wohnungssuchende würden mit der Mietbescheinigung zur Stadt gehen und auf eigene Initiative handeln: „Immer wieder gibt es mal den einen oder anderen, der in den Hagenweg zieht.“
Die Corona-Krise hat auch die Flüchtlingsarbeit verändert. Schon aus Selbstschutzgründen sei die ehrenamtliche Betreuung zurückgegangen, berichtet Geschäftsführungsassistentin Katharina Lankeit: „Anders als in den turbulenten Jahren 2015 und 2019, als wir Neuland betreten haben und Learning-by-Doing angesagt war, ist es sehr ruhig geworden.“
Das bestätigt auch Engelbert, die durch die harte Schule der Vogt-Schule gegangen ist – mit beengten Verhältnissen, einem „ehemaligen Klassenraum als Gemeinschaftsküche, Gemeinschaftsbädern und einem schwierigen Klientel ohne Bleibeperspektive“. Im Europaallee-Quartier sieht das anders aus. Dort gibt es 50 schlichte Appartements mit jeweils drei Zimmern, eigener Küche und Bad, belegt mit maximal sechs Bewohnern. „Zumeist teilen sich Familien ein Appartement, in der Regel sind die Appartements von weniger als sechs Leuten bewohnt“, sagt Bonder.
Unterschiedlicher Status
Wie auch in der Zietenterrassen-Unterkunft stellen Kolumbianer zurzeit nach Syrern die größte Gruppe. Der Status der Bewohner ist unterschiedlich – von Asyl-Antragsstellung über Duldung bis zur Anerkennung. Hausmeister Jens Albrecht schaut nach dem Rechten, es gibt einen Kinderbetreuungsbereich mit Angeboten von der Hausaufgabenhilfe bis zur Vermittlung von Kita-Plätzen, die Bewohner sind in Initiativen wie die Gartengestaltung eingebunden.
Die Corona-Krise sei bislang problemlos gemeistert worden, sagt Bonder und verweist auf wöchentlich aktualisierte Aufklärung und Aushänge in verschiedenen Sprachen sowie Piktogrammen. Die Mitarbeiter würden sechs Sprachen abdecken, für die Einhaltung der Corona-Regeln seien die Bewohner selbst verantwortlich. „Bislang funktioniert der verantwortungsbewusste Umgang der Bewohner mit der Pandemie auch “, ergänzt Engelbert.
Plan für Ernstfall
„Wir hatten bisher weder bei Bewohnern noch Beschäftigten einen Corona-Fall, Tests waren bislang nicht erforderlich“, sagt Bonder. Bei Fieber und anderen Auffälligkeiten würden Hausärzte zu Rat gezogen, bis dato noch kein Krankheitssymptom auf Corona zurückgeführt worden. „Wir sind keine Insel der Glückseligen und können das Risiko nur minimieren, aber nicht ausschließen. „ Im Ernstfall werde ein eigener Pandemie-Plan umgesetzt. Dazu gehören auch zwei Wohnungen, die eigens für Quarantäne-Fälle freigehalten werden.
Für Quarantäne-Fälle werden vorsorglich Zimmer freigehalten.
Im April hat Göttingens Sozialdezernentin Petra Broistedt für die Bewohner der Europaallee-Unterkunft 200 Gesichtsmasken übergeben, die von Göttinger Bürgern genäht wurden. Der Forderung, dass Flüchtlingsheime wie die von der Bonveno getragene Gemeinschaftsunterkunft aufgrund der Corona-Pandemie geschlossen werden sollten, erteilte Geschäftsführer Michael Bonder eine Absage: „Die Menschen sind hier besser aufgehoben, als in der Stadt verteilt.“